Foto: Keystone / Roessler

Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld, Protestversammlung zur Notstandsgesetzgebung am 28. Mai 1968

Hier eine Hand, die locker über der Stuhllehne hängt, dort stützt sie bestimmt den Kopf oder ruht verschränkt mit der anderen vor der Brust – Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld (v. l. n. r.) am 28. Mai 1968 in Frankfurt am Main. Weiß man um den Anlass, glaubt man ihn in den Gesichtern, dem ernsten Blick und den gerunzelten Stirnpartien der drei Männer reflektiert zu sehen. Das Aktionskomitee »Demokratie im Notstand« hatte zu einer Protestversammlung aufgerufen; am Tag darauf verabschiedete die erste Große Koalition der Bundesrepublik das »17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes«. Optimistisch und verharmlosend zugleich bemerkte der »Informationsdienst der Christlich Demokratischen Union Deutschlands«: »Es wird sich jetzt zeigen, wie schnell die angestachelten Emotionen verfliegen, wenn der Bürger erst einmal merkt, daß sich durch die Notstandsgesetze in unserem Alltagsleben gar nichts verändert«. Wer hier mit ›uns‹ gemeint war, mithin ob es den ›Bürger‹ im substantiellen und historischen Sinn in der Bundesrepublik der späten 1960er Jahre überhaupt in nennenswerter Zahl gab, war freilich keineswegs ausgemacht. Zumindest Theodor W. Adornos Denken seit der Nachkriegszeit kreiste um die Ahnung, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft den Elementen des Bürgerlichen, die es einst bewahrend aufzuheben, nicht abzuschaffen galt, nur noch im Moment ihres Verschwindens habhaft werden konnte.

Das Foto ist die Miniatur jenes intellektuellen Milieus und seiner Produktionsbedingungen, das, wie auch immer verzweifelt, diese Reste bürgerlicher Vernunft retten wollte. Hier der politisch engagierte Schriftsteller Böll, ein Vertreter jener Schicht, auf die der Begriff des „Intellektuellen“ aus Émile Zolas Munde einmal gemünzt war. Daneben der Kritische Theoretiker Adorno, der zwar der Rede vom Engagement zeitlebens skeptisch gegenüber stand aber dennoch der Überzeugung war, dass die akademische Selbstabschottung der Philosophie ihre historische Hilflosigkeit nur verstärken würde und darum unzählige Male den Weg an die Öffentlichkeit suchte. Auf eines der Medien, dessen er sich dazu regelmäßig bediente – das Radio – weist der Ort der Veranstaltung hin: Die Protestversammlung fand im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks statt. Und schließlich der Verleger Unseld, der es sich zur geradewegs herkulischen Aufgabe machte, mit seinem Verlagshaus Suhrkamp eine bürgerlich-intellektuelle Kultur zu etablieren, von der gar nicht klar war, ob sie von den Nationalsozialisten zerstört wurde oder ob die Tatsache, dass es den Nationalsozialisten gelungen war, ihre Ideen in die Tat umzusetzen, nicht das entscheidende Indiz dafür war, dass eine solche Kultur nie hatte Fuß fassen können. Die Notstandsgesetze sind bis heute in Kraft.

 

Robert Zwarg

DLA Marbach

 

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