»Lieber Karlheinz, somit können wir den Sargdeckel über unseren Sade schließen.«, schreibt die Lektorin des Reclam Verlags, Helgard Rost, in einer Notiz an den Romanisten und Leiter des Bereichs ›Theorie und Methodologie‹ am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL), Karlheinz Barck. Der Sargdeckel schließt sich in diesem Fall über der geplanten Ausgabe des Werkes Justine ou les Malheurs de la vertu des französischen Autors Donatien Alphonse François, Marquis de Sade. Obszönität, Sadismus, die Lust am Lasterhaften und Blasphemie – kein Wunder, dass die Rezeption angesichts seiner Provokationen noch im 19. Jahrhundert gemäßigt ausfällt, sogar verdrängt wird, bis sein Werk vor allem im 20. Jahrhundert, unter anderem durch die Surrealisten, die in De Sade das Abseits erotischer Fantasien bejubelten und zum literarischen Vorbild nahmen, »rehabilitiert« wurde (Grosse 1992, in: Brockhaus-Enzyklopädie: 52).
Justine, oder auch – nach Maurice Blanchot – »le livre le plus scandaleux qui puisse se lire«, entsprach mit seiner Umkehrung der Gesellschaftsordnung – dem Anpreisen des Lasters und der Bestrafung der Tugend – sowie der Fülle an Pervertierungen nicht gerade dem sozialistischen Erziehungsideal und den Grundsätzen der Verlagsarbeit der DDR. Und dennoch agierten die Verlagslektorin des Reclam Verlages Helgard Rost und der Romanist Karlheinz Barck ganz und gar nicht als ›Vormünder der Moral‹ bzw. einer verfälschten Moral (vgl. Blanchot 1963, Lautréamont et Sade: 18) zum Zwecke eines Ausschlussverfahrens kontroverser Literatur, sondern bemühten sich um eine Veröffentlichung der Werke De Sades. Diese scheiterte letztendlich nicht an der Aversion der kulturpolitischen Instanzen der DDR gegenüber avantgardistischen und dekadenten Werken, sondern aufgrund der Ablehnung durch einen westdeutschen Verlag, die aus der ›Kollision‹ zweier Buchmärkte nach dem Mauerfall 1989 resultierte. Obwohl zunächst noch die Forderung nach einem alternativen sozialistischen Verlagswesen bestand, erübrigte sich diese zum einen durch die wirtschaftliche Überlegenheit der Westverlage, zum anderen durch das mangelnde Interesse der Bevölkerung der DDR für ihre eigene Literatur und der gleichzeitig steigenden Nachfrage nach westdeutschen Büchern (vgl. Rumland 1993, Veränderungen in Verlagswesen und Buchhandel der ehemaligen DDR 1989-1991). Dieses Missverhältnis äußerte sich letztlich auch in der Beseitigung enormer Mengen an DDR-Buchbeständen. (vgl. Grub 2003, Wende und Einheit im Spiegel der deutschsprachigen Literatur). Vor allem aber verkomplizierte die Frage der Lizenzrechte eines plötzlich deutsch-deutschen und dennoch systemisch divergierenden Buchmarkts Veröffentlichungen, wie etwa die geplante De Sade-Ausgabe von Barck und Rost.
Für die Übersetzung war Katharina Hocks vorgesehen, wie sich dem Briefwechsel zwischen dem Merlin Verlag und dem Reclam Verlag vom Februar 1989 entnehmen lässt. Das Nachwort, dem in der Literaturlandschaft der DDR die Funktion eines Korrektivs bzw. der Kontextualisierung zukam, sollte von Karlheinz Barck verfasst werden. So legte Rost Barck im Februar 1990 nahe, an seinem Nachwort zur De Sade-Ausgabe zu arbeiten, auch mit der Aussicht, dass der Verlag Matthes & Seitz diese in die geplanten sieben Bände der Gesamtausgabe aufnehmen würde (Briefkorrespondenz: Helgard Rost an Karlheinz Barck, 02.02.1990, DLA Marbach). Doch zu der angestrebten Veröffentlichung kam es nie, die Absage des westdeutschen Merlin Verlags, mit dem der Reclam Verlag sich zwecks einer Publikation in der DDR im Austausch befand, ist eindeutig: »Tatsächlich haben sich durch die Ereignisse die Dinge natürlich stark verändert. Ich halte es in keiner Weise für wünschenswert, daß zwei deutsche Ausgaben des gleichen Bandes in Westdeutschland verkauft werden […]«, schrieb Verleger Andreas J. Meyer an Helgard Rost am 14.05.1990 (Briefkorrespondenz: Merlin Verlag an Reclam Verlag, 14.05.1990, DLA Marbach).
Diese ›starke Veränderung‹ in der Zeit der Wende und die damit verbundenen Konsequenzen in allen gesellschaftlichen Bereichen, so auch in der Kulturpolitik, dokumentiert Barck in zahlreichen Zeitungsartikeln. Die Titel zeugen von seiner Besorgnis um die Reformierung der akademischen Institutionen der DDR ab 1989 bis in die frühen 1990er-Jahre, so z.B.: »Kader auf Lebenszeit? Zur Zukunft der DDR-Wissenschaftler«, »Wie man eine Chimäre zum Leben erweckt. Hat die DDR-Forschung versagt? – Kritische Bestandsaufnahme einer allzu vorsichtigen Wissenschaft«. Ein Zwischenruf von Carl-Wilhelm Macke in der Frankfurter Rundschau, der sich in Barcks Zeitschriftensammlung findet und die Ansichten Barcks widerspiegelt, hinterfragt kritisch das »intellektuelle Grenzgängertum« im vereinten Deutschland: »Wo sind die Intellektuellen geblieben mit dem Mut zum Wildern in fremden Revieren? Wo sind die Experten, die es wagen, von vertrautem Wissensland abzustoßen an die fremden Gestade von Nachbardisziplinen oder gar künstlerischen Musen? Kompetenz und Wissen braucht das Land, aber auch Wissenschaftler, die mit Neugierde und Phantasie ihre Netze in fremden Gewässern auswerfen.« (Frankfurter Rundschau, 02.11.1993, in: A: Barck, Karlheinz, Verschiedenes, Materialsammlung, DLA Marbach).
Dass Karlheinz Barck, der am Zentralinstitut für Literaturgeschichte tätig war, sehr wohl um ein »literarisches Grenzgängertum« und um Fantasie anstelle von Engstirnigkeit bemüht war, bezeugen beispielsweise die umfangreiche Anthologie Surrealismus in Paris. 1919-1939 (1986) und das Engagement für eine Neudefinition des Avantgardebegriffs. So schreibt sein damaliger Kollege, der Romanist Wolfgang Klein, über ihn: »Dieser Forscher war nicht nur Romanist. Man kann auch formulieren: Er hat gezeigt, was Romanisten umgreifen und in Bewegung und Form zu bringen vermögen.« (Wolfgang Klein über Karlheinz Barck, in: Ertler 2014, Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte: 15).
Die publikationsrechtliche Situation, mit der Barck und Rost konfrontiert waren, war jedoch eine, die wenig Spielraum zuließ, um etwas in ›Bewegung zu bringen‹, »da die bundesdeutschen Verlage sich nur wenig Zurückhaltung bei der Eroberung des neuen Marktes auferlegten […]« (Rumland 1993, »Veränderungen in Verlagswesen und Buchhandel der ehemaligen DDR 1989-1991«, in: Delp / Neumann 1993, Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv: 28), wogegen die DDR mit einer planwirtschaftlichen Strukturierung des Literaturbetriebs nur schwer etwas entgegensetzen konnte. Der »Tod des Buches« – zumindest einiger – war vorprogrammiert, bereits vor der Währungsunion und vor der Vereinheitlichung der Vertriebsgebiete von Ost und West. Eine Parallelausgabe kam für den hamburgischen Merlin Verlag nicht in Frage, da bereits eine dreibändige Ausgabe der Werke des Marquis de Sade in den 1960er-Jahren erschien und eine Neuauflage der Justine im April 1990 herausgegeben wurde. Im gleichen Jahr veröffentlichte auch der westdeutsche Insel Verlag den Roman Justine oder das Leiden der Tugend und der französische Verlag Gallimard publizierte die Werke De Sades erstmalig in der ›Bibliothèque de la Pléiade‹. Anders die Publikationslage im »Ausland DDR«, die Andreas J. Meyer in seinem Brief an die Reclam-Lektorin Helgard Rost wie folgt beschreibt: »Für die DDR sah die Sache anders aus, denn ein Verkauf der DDR-Ausgabe in Westdeutschland kam ja ohnehin nicht in Betracht und ich bin auch der Meinung, dass sie jetzt nicht in Betracht kommen kann.« (s.o.: Archivfund).
Ein Ausschlussverfahren des zu der Zeit noch ungeteilten Reclam Verlages, welcher sich in den 1970er- und 1980er-Jahren für die Veröffentlichung von modernen Klassikern sowie auch von »Quellen der radikalen sozialistischen Gesellschaftskritik« (Dietzsch 1992, »30 Jahre Philosophie aus Leipzig. 1962-1992«, in: Kopfbahnhof. Almanach 5. Fünf Jahrhunderte Einsamkeit. Die europäische Kultur in der Erfahrung der anderen: 142) einsetzte, verhinderte die Publikation der geplanten De Sade-Ausgabe. Noch ein Jahr zuvor, am 20.02.1989, schien der Merlin Verlag enthusiastisch gegenüber dem Programm des Reclam Verlags: » […] wir sind überzeugt, daß Sie in ihrem Programm eine ganze Reihe von Büchern produziert haben, die uns interessieren und die wir gern in unserer Bibliothek hätten.« (Briefkorrespondenz: Merlin Verlag an Reclam Verlag, 20.02.1989, DLA Marbach).
Nur ein knappes Jahr, in dem ein deutsch-deutscher Buchmarkt sich vereinigte, und Institutionen wie das Zentralinstitut für Literaturgeschichte, an welchem zuvor »außeruniversitäre Projektgruppen zur internationalen Literaturgeschichte«, »interphilologisch«, »interdisziplinär« und – wie sich im Hinblick auf die Bemühungen der Veröffentlichung marxistisch nonkonformer Literatur behaupten ließe – auch »grenzgängerisch« forschten, schließlich evaluiert und aufgelöst wurden (Boden 2004, Modernisierung ohne Moderne: Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969-1991): 4-5). Ein Abwicklungsprozess, der schließlich auch für so manche Publikation geltend gemacht wurde. In der Wendezeit war dies jedoch nicht mehr auf die Druckgenehmigungsverfahren zurückzuführen, wodurch Werkinhalte, die vom realsozialistischen Konsens abwichen, disqualifiziert und verbannt wurden, sondern auf den aktuellen historischen Kontext: eine neue Rechtssituation des Buchmarkts, welcher die bisherigen Rezeptionsbedingungen grundlegend veränderte.
Die »Logik der Verkehrung« (Grosse: »Martern aller Art«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.1990), die De Sades Stil kennzeichnet, war in diesem Fall nicht für den Leser bestimmt, sondern für die Herausgeber. Nachwörter und ganze Ausgaben wurden hinfällig, die bisherigen Publikationen, die wie »ein kleiner Sieg über die realsozialistische Schulphilosophie und über den bösen Ernst schier allgegenwärtiger Ideologiekämpfer [wirkten]« (Dietzsch 1992, 30 Jahre Philosophie aus Leipzig. 1962-1992, in: Kopfbahnhof. Almanach 5. Fünf Jahrhunderte Einsamkeit. Die europäische Kultur in der Erfahrung der anderen: 143), wurden zu Verlusten, womit sich auch der Sargdeckel über dem Buchmarkt der DDR schloss.
Kristin Engelhardt, Humboldt Universität zu Berlin